EU-Medizinprodukteverordnung MDR/IVDR:
„Ein früher Vogel fängt den Wurm“ oder „Machen Sie sich jetzt schon mit den Verschärfungen vertraut“
Im Nachfolgenden gehen wir detaillierter auf einige wichtige Änderungen durch die neuen EU-Verordnungen MDR (2017/745/EU) und IVDR (2017/746/EU) ein und zeigen Ihnen die Unterschiede zwischen den Richtlinien und nationalen Medizinproduktegesetze auf der einen Seite und die neuen Verordnungen auf der anderen Seite.
Konformitätsbewertung
Nach der Einführung der neuen Verordnungen ist einer der wichtigsten Fragen für Hersteller von Hochrisiko-Geräten, ob sie ausreichende klinische Evidenz haben, um ihre Geräte im Markt zu halten. Derzeit stützen sich nämlich zirka 95% der Hochrisiko-Geräte, die in der EU zugelassen sind, auf Daten der Konkurrenz. Weiter hat eine der leitenden Benannten Stellen herausgefunden, dass zweidrittel der Medizinprodukte, die derzeit in der EU vermarktet werden, die Möglichkeit der Äquivalenz mit einem schon im Markt befindlichen Gerät gewählt haben, ohne eigene Daten vorzuhalten. In Zukunft müssen die Hersteller für diese Geräte über eigene Ergebnisse zur Sicherheit verfügen. Beziehungsweise, wenn ein Medizintechnik-Unternehmen die Vergleichbarkeit seines Gerätes mit dem eines anderen Herstellers für sich in Anspruch genommen hat, dann sollte das Unternehmen zumindest einen Vertrag mit dem anderen Hersteller haben, um zukünftig diese Daten auch weiter verwenden zu dürfen. Andernfalls müsste das Unternehmen eigene klinische Ergebnisse vorlegen. Außerdem sollte das Unternehmen die Datenlage der Geräteklasse im Markt kontinuierlich überwachen. Die neuen EU-Verordnungen haben die Anforderungen für die Beweislast der Sicherheit und Wirksamkeit mittels klinischer Bewertung und eigener klinischer Prüfung signifikant erhöht. Wir raten den Firmen daher genau zu beobachten, welche weiteren Verordnungen und Richtlinien in den nächsten Jahren noch durch die EU veröffentlicht werden. So müssen z. B. einige der MEDDEV-Richtlinien noch an die Anforderungen der neuen MDR und IVDR angepasst werden. Vor ca. zehn Monaten wurde schon die vierte, komplett neu-überarbeitete Revision der Richtlinie für klinische Bewertungen – MEDDEV 2.7/1 – in Reaktion auf dem sog. PIP-Skandal (undichte Brustimplantate) aus dem Jahr 2011 veröffentlicht. Auch die Überarbeitungen dieser Richtlinien sind wichtig, weil sie den Firmen dabei helfen werden, wie sie die Anforderungen der MDR/IVDR implementieren und anwenden sollen (siehe Kapitel - Die Klinische Bewertung in der Übergangszeit zwischen EU-Richtlinien (MDD, AIMDD) und EU-Verordnung (MDR).
Fragen Sie sich auch, ob Ihre Benannte Stelle schon so weit ist, dass sie die neuen Verordnungen erfüllen kann. Sicherlich macht es Sinn, dass Sie regelmäßig einen Austausch über die Prozesse und Zeitlinien haben.
MDR/IVDR versus MDD/AIMDD/IVDD
Als Erstes fällt auf, dass die Verordnungen im Vergleich wesentlich umfangreicher sind als die Richtlinien (177 Seiten bei der MDR versus 65 bei der MDD bzw. 20 Seiten bei der AIMDD; 159 Seiten bei der IVDR versus 37 bei der IVDD). Die MDR umfasst neben 67 Seiten Erwägungsgründen (bei der MDD bislang 5 Seiten) 123 Artikel (bei der MDD bislang 23) und 17 Anhänge (bei der MDD bislang 10).
Zweitens, die Inhalte von MDR und IVDR sind jetzt viel stärker harmonisiert. Beispielsweise sind auch die In-vitro-Diagnostika einer risikobasierten Klassifizierung zu unterziehen. Dies wird vor allem IVD-Hersteller, deren Produkte bisher allgemeine IVDs waren, vor fundamentale Herausforderungen stellen.
Drittens ist das Ziel der neuen Verordnungen die Gewährleistung der Produktsicherheit. Die Verordnungen enthalten zahlreiche Herausforderungen der Hersteller: Dazu gehören u.a. die Höherklassifizierung von Medizinprodukten (wie z.B. Regel 11 zur Klassifizierung von stofflichen Medizinprodukten oder Software) sowie der verschärfte Marktzugangsprozess (Scrutiny-Verfahren) für z. B. Klasse IIb-Produkte, welche Arzneimittel zuführen, oder neue implantierbare Produkte der Klasse III.
Viertens werden nicht nur die Hersteller, sondern auch die Zulieferer, Importeure, Distributoren und Vertriebsorganisationen (die sog. „economic operators“ oder Wirtschaftsakteure) genauer unter der Lupe genommen. In vielen Fällen müssen sie verschärften Regelungen folgen. Bisherige vertraglichen Vereinbarungen mit den Lieferanten gehören somit auf den Prüfstand. Denn die MDR verlangt vom Qualitätsmanagementsystem der Hersteller unter anderem ein umfassendes Ressourcenmanagement, das Auswahl wie Kontrolle von Zulieferern und sogar deren Unterauftragnehmern mit abbilden muss. Gleichzeitig sind Behörden wie Benannte Stellen gefordert, sich sehr viel kritischer auch mit den Zulieferern für Medizinproduktehersteller auseinanderzusetzen als bislang üblich. Insofern werden Hersteller an die eigenen Zulieferer zwingend strengere Anforderungen stellen und die Kooperation mit Lieferanten vertraglich umfassend neu regeln müssen.
Fünftes ist der Marktzugang für Medizinprodukte über die CE-Kennzeichnung zeitlich befristet:
• Nach der Zertifizierung finden jährliche Wiederholungsaudits der Benannten Stellen statt.
• Spätestens alle fünf Jahren werden Medizinprodukte durch die Benannte Stelle re-zertifiziert und erhalten nach erfolgreichem Audit eine neue Konformitäts-bescheinigung.
• Außerdem finden spätestens alle drei Jahre – bei Hochrisikoprodukte sogar häufiger – unangekündigte Audits der Benannten Stelle beim Hersteller und deren wichtigsten Lieferanten statt, bei denen Stichproben aus der Produktion gezogen und überprüft werden.
Weitere wesentlichen Neuerungen durch die MDR sind:
• Zusätzliche Berichte und Pläne wie Post Market Surveillance Plan/Report (PMS), Post Market Clinical Follow-up Report (PMCF), Periodic Safety Update Report (PSUR), Summary of Safety and Clinical Performance (SSCP).
• Wesentlich höhere Anforderungen bei der Erstellung von klinischen Daten, beispielsweise in der klinischen Bewertung.
• Die zeitlich gestaffelte Einführung einer UDI-Kennzeichnung.
Nach Inkrafttreten ergibt sich aus der MDR folgender Zeitablauf:
• Mit dem Inkrafttreten der MDR beginnt die in der Verordnung vorgesehene Übergangsfrist von drei Jahren, innerhalb derer sich Hersteller wahlweise noch nach altem Recht oder bereits nach neuem Recht zertifizieren lassen können.
• Da sich die Benannten Stellen frühestens sechs Monate nach dem Inkrafttreten neu benennen lassen können, um Zertifizierungen nach neuem Recht vorzunehmen, verkürzt sich die Übergangsfrist für die Hersteller um diesen Zeitraum.
• Anschließend findet die Neubenennung der 50 bis 60 Benannten Stellen in Europa nach neuem Recht statt. Dies geschieht im Wege des „Joint Assessments“ durch mehrere nationale Behörden einschließlich eines Vertreters der EU-Kommission. Dieses Verfahren wird mindestens weitere 12 Monate, voraussichtlich aber 18 Monate, in Anspruch nehmen.
• Erst anschließend, ab dem Jahr 2019, werden Hersteller in der Lage sein, ihre Anträge auf Neuzertifizierung bei ihrer neubenannten Stelle einzureichen, sollten hier zwischenzeitlich keine alternativen Vorgaben seitens der Kommission geschaffen werden.
• Der Prozess der Neu-Zertifizierung wird mindestens weitere 12 Monate in Anspruch nehmen. • Bis alle Hersteller in der EU und den Drittstaaten nachzertifiziert sind, wird die dreijährige Übergangszeit längst aufgebraucht sein.
Diese Situation führt dazu, dass Hersteller nach Expertenmeinung gut beraten sein werden, ihre Altzertifikate kurz vor dem Ablauf der dreijährigen Übergangsfrist zu verlängern. Diese gelten dann maximal weitere vier Jahre nach dem Geltungsbeginn der MDR weiter (bis 26. Mai 2024). Diese Möglichkeit ist aber ein spezielles Szenario. Die Mehrheit der Produkte werden erwartungsgemäß nicht später als fünf Jahre ab dem 26. Mai 2017 re-zertifiziert sein.
Verschärfte Vorschriften für Medizinproduktehersteller
Die neuen EU-Verordnungen verschärfen die Vorschriften, wenn Medizinprodukte bzw. In-vitro Diagnostika auf den Markt gebracht werden. Sie verstärken die anschließende Marktüberwachung. Auch haben die Verordnungen die Vorschriften für Benannte Stellen sowie deren Überwachung verschärft. So werden Benannte Stellen unter anderem dazu angehalten, unangekündigte Audits in den Unternehmen durchzuführen.
Die neuen Verordnungen enthalten explizite Bestimmungen zur Verantwortung des Herstellers in Bezug auf die Rückverfolgbarkeit von Qualität, Leistung und Sicherheit der Medizinprodukte, die bereits am Markt sind. Somit sind die Vigilanz-Anforderungen erhöht. Durch verbesserte Rückverfolgbarkeit („Traceability“) wird es Herstellern und Behörden ermöglicht, sofort und rasch zu handeln, wenn Bedenken bestehen. Es soll ihnen auch helfen, ihre Produkte auf der Grundlage dieser Daten kontinuierlich zu verbessern. Den Herstellern werden klare Verantwortlichkeiten beispielsweise für die Haftung, aber auch für die Aufzeichnung von Reklamationen, auferlegt. Die Pflicht zum Unterhalt einer Haftpflichtversicherung bzw. die ausreichende Bildung von Rücklagen für Schadensfälle nach dem Vorbild der deutschen Betriebshaftpflichtversicherung ist eingeführt. Außerdem verbessern die EU-Verordnungen die Verfügbarkeit klinischer Daten. Und schließlich wird der Schutz von Patienten, die an klinischen Studien teilnehmen, verstärkt.
Bestimmte Hochrisiko-Produkte, wie zum Beispiel Implantate, können einer zusätzlichen Überprüfung durch Experten unterzogen werden, bevor sie auf den Markt gebracht werden dürfen (das sog. Scrutiny-Verfahren). Expert-Panels und Laboratorien werden eine entscheidende Rolle spielen, um Know-how und Beratung zu klinischen Themen an Benannte Stellen, zuständige Behörden und Hersteller weiterzugeben. Die neuen EU-Vorschriften betreffen ausdrücklich auch bestimmte Geräte ohne einen medizinischen Zweck, aber mit ähnlichen Eigenschaften. Dies greift zum Beispiel bei Füllstoffen und farbigen Kontaktlinsen für kosmetische Zwecke.
Im Bereich der klinischen Daten gelten nun folgende Regeln:
• Nur noch klinische Daten aus veröffentlichten “peer-reviewed”-Beiträgen
• Bei den Anforderungen an die klinische Bewertung von Medizinprodukten ist neu, dass die Hersteller einen klinischen Entwicklungsplan, einschließlich eines Planes für die klinische Nachbeobachtung, nach dem Inverkehrbringen erstellen müssen. Vorhandene Lücken müssen durch klinische Studien oder Anwendungs-beobachtungen geschlossen werden, da insgesamt ein größeres Augenmerk auf klinische Daten gelegt wird. Als Teil der Technischen Dokumentation muss der Hersteller zudem einen Bericht über die klinische Bewertung verfassen.
• Klasse III Medizinprodukte müssen im Normalfall klinisch geprüft sein.
• Klinische Bewertung: Klasse III und implantierbare Geräte können sich nur noch auf
Vergleichbarkeitsdaten berufen, wenn der Hersteller die Geräte, die für den Vergleich herangezogen werden, besitzen. Oder der Hersteller einen Vertrag mit dem Hersteller hat, der ein vergleichbares Gerät auf dem Markt bringt, um Zugang zu alle Daten und Prüfergebnisse zu erhalten.
• Post-Market Clinical Follow-Up-Anforderungen: Die „Safety/Clinical Evaluation/Performance Summary Reports“ müssen für Klasse III und Implantierbare Geräte mindestens jährlich aktualisiert werden.
Eine zentrale Datenbank (EUDAMED) gewährleistet Rückverfolgbarkeit
Es wird eine zentrale Datenbank eingerichtet, um ein verbessertes System für alle relevanten Informationen zu erstellen. Diese Datenbank wird alle relevanten Informationen der beteiligten Unternehmen, der Benannten Stellen, der Marktüberwachung, der klinischen Studien und Zertifikate umfassen. Darüber hinaus wird die Datenbank Patienten, Fachleuten des Gesundheitswesens und der Öffentlichkeit umfassende Informationen über Produkte in der EU zur Verfügung stellen. Dadurch werden bessere Entscheidungen auf Basis von fundierten Informationen möglich. Medizinprodukte sollen außerdem eine Unique Device Identifier-Nummer (kurz: UDI-Nummer) und sog. „Single Registration Numbers (SRN)“ bekommen, um die lückenlose Rückverfolgbarkeit gewährleisten zu können. Nach einem Beschluss der Europäischen Kommission vom 19. April 2010 müssen alle EU-Mitgliedstaaten seit Mai 2011 diese Datenbank nutzen. Die neue Version wird in der nächsten Zeit online gehen, aber noch ist nicht klar ab wann. Die Emergo group schreibt: „Es ist geplant, dass die neue Eudamed-Version bis März 2018 zum Beta-Testen bereit ist, im März 2019 betriebsbereit und im September 2019 formal einsatzbereit ist, wobei die Eingabe der bestehenden Daten bis März 2021 dauern wird.“
Explizite QMS- und RMS-Anforderungen
Die hohen Anforderungen an die Sicherheit und Leistungsfähigkeit von Medizinprodukten umfassen eine Risikoanalyse und Risikobewertung zum Nachweis der Sicherheit. Die Einhaltung aller relevanten Gesetze und Normen muss nachgewiesen werden. Außerdem muss ein umfassendes QM-System, das Kontrollen im technischen Labor oder Chargen- und Stichprobenprüfungen während der Produktion umfasst, belegt werden. Die neuen Verordnungen MDR und IVDR haben nun im Vergleich zu MDD, AIMDD und IVDD zwar viel mehr Anforderungen für Qualitäts- und Risiko-Management, aber der Hersteller und die anderen Wirtschaftsakteure („economic operators“) brauchen weiterhin die ISO 13485, um die vollständige Umsetzung eines QM-Systems für Medizinprodukte nachzuweisen. Die ISO 13485 für Qualitätsmanagement wurde 2016 erneuert und Hersteller sind gerade dabei, sich auf die Änderungen, die mit den Regeln der neuen Verordnungen zusammenhängen, einzustellen.
Während man also den Übergang von den MDD/AIMDD/IVDD-Richtlinien auf die Erfüllung der MDR/IVDR-Verordnung managen muss, muss man auch den Übergang auf die ISO 13485 zeitlich koordinieren, um rechtzeitig für ein QM-Audit vorbereitet zu sein. Man sollte versuchen, diesen Übergang vor der zweiten Jahreshälfte 2018 zu schaffen. Vergessen sollte man bei all dem auch nicht, welche Änderungen durch die anderen regulatorischen Behörden, wie die US-FDA, vorgenommen werden, wenn man auch in diesen Märkten seine Medizinprodukte verkauft. Die andere Herausforderung ist die Risiken-Nutzen-Analyse und -Bewertung der Medizinprodukte. Eine Nutzen-Risiken-Analyse und -Bewertung ist die Sammlung und Prüfung der Daten und Literatur, um den medizinischen Nutzen des Produkteinsatzes im Vergleich zum Restrisiko festzustellen.
Der Europäische Kommission hat schon in 2012 die harmonisierte Version des Standards EN ISO 14971 Medizinprodukte – Anwendung des Risikomanagements auf Medizinprodukte veröffentlicht. Die Veröffentlichung legt die Erwartungen an das Risikomanagement für CE-Kennzeichnung dar, damit die Hersteller weiterhin die Konformität ihrer Medizinprodukte deklarieren können. Die Art und Menge der Daten und Literatur für die Analyse hängt größtenteils davon ab, ob das Medizinprodukt oder In-vitro-Diagnostikum neuartig oder vergleichbar mit bereits bestehender Technologie ist. Welche Daten genutzt werden können, hängt auch vom Status im Produktlebenszyklus ab, d. h. ist das Medizinprodukt noch in der Entwicklung oder ist es bereitsauf dem Markt und sind schon „Post-Market Surveillance“-Daten verfügbar. Bei neuartigen Produkten wird erwartet, dass der Hersteller klinische Studien, die auch die Quantifizierung der Nutzen und Risiken beinhalten, durchgeführt hat.
Für die CE-Kennzeichnung müssen solche Studien gemäß EN ISO 14155 „Klinische Prüfung von Medizinprodukten an Menschen – gute klinische Praxis“ geplant und durchgeführt werden. Die ISO 14155 gilt nicht für In-vitro Diagnostika. Nach der Markteinführung des Medizinproduktes bzw. In-vitro Diagnostikums werden nun eine Post-Market-Clinical-Follow-Up gefordert, um die Abwägung zwischen Nutzen und Risiken fortwährend zu prüfen. Hiermit werden eventuell Risiken identifiziert, die unter kontrollierten Bedingungen nicht unbedingt festgestellt werden.
Ihr ANSPRECHPARTNER:
Frau Dipl. Biol. Jana Wolkow
Project Manager Regulatory Affairs
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